Es war eine herausfordernde Zeit für uns beide. Mein Sohn hat ADHS und durchlebte eine schwierige Schulzeit. Trotz stundenlangen Lernens schien das Erlernte am nächsten Tag wie ausgelöscht. Diese Situation war für ihn zutiefst frustrierend und für mich als Mutter schmerzhaft mitanzusehen.
Mit dem plötzlichen Einsetzen der Pubertät wurden die Herausforderungen noch größer. Sein Verhältnis zu seinem Vater verschlechterte sich zusehends, bis der Kontakt schließlich vollständig abriss. Den Schmerz und die Sehnsucht nach der Liebe seines Vaters versuchte er, mit Alkohol und leichten Drogen zu betäuben. Er zog sich in eine eigene Welt zurück, in die ich keinen Zutritt mehr hatte.
Ich fühlte mich macht- und hilflos. Alle meine Versuche, ihm zu helfen, scheiterten. Er verweigerte jede Therapie, jede Form von Unterstützung. Die Wut auf sein Leben und seinen Vater wuchs stetig, bis er sie nicht mehr kontrollieren konnte. Seine Emotionen fuhren täglich Achterbahn.
Immer wieder sagte er: „Ich mag nicht mehr leben. Es ist mir alles zu viel. Es wäre für alle besser, wenn ich nicht mehr da wäre.“
Diese Worte zerrissen mir das Herz. Ich suchte nach Lösungen, absolvierte eine Ausbildung zum diplomierten Mental-Coach und begann, die Zusammenhänge zu verstehen. Dabei wurde mir klar, dass auch ich mich verändern musste.
Zwei Jahre lebten wir in dieser belastenden Situation. Die ständige Angst, dass er sich etwas antun könnte, begleitete mich Tag und Nacht. Wir stritten oft, denn er verweigerte sich jeglichen Regeln. Ich probierte zahlreiche pädagogische Ansätze aus, doch meine Kraft und Geduld schwanden. Die Behörden, an die ich mich wandte, zeigten sich hilflos. Es war zum Verzweifeln.
Nach einer weiteren Aufstellung sagte mir mein Mentor: „Du musst ihn in Liebe loslassen. Respektiere seine Entscheidung, aus dem Leben zu gehen.“
Zunächst war dieser Gedanke unvorstellbar für mich. Ich konnte meinem eigenen Kind doch nicht sagen: „Es ist okay, wenn du gehst.“ Doch mit der Zeit begann ich zu verstehen, was damit gemeint war.
Zwei Jahre später stand ich in unserer Wohnung und sagte zu meinem Sohn:
„Ich liebe dich über alles. Ich fühle deinen Schmerz und deine Überforderung. Wenn du wirklich keinen anderen Ausweg mehr siehst, akzeptiere ich deine Entscheidung – auch wenn es mir das Herz zerreißt.“
Stille.
Er schaute mich irritiert an. Ich konnte sehen, wie es in seinem Kopf arbeitete. Plötzlich wurde ihm klar, dass er damit die volle Verantwortung für sein Handeln übernehmen musste. Dann brach er in Tränen aus. Ich sagte ihm, dass ich ihm nicht mehr helfen könne, aber dass ich eine Familienaufstellung als letzten Ausweg sehe. Da er mittlerweile 18 Jahre alt war, konnte ich sie nicht mehr für ihn machen – er musste selbst entscheiden.
Er zog sich in sein Zimmer zurück und bat um Bedenkzeit. Minuten voller Ungewissheit verstrichen. Dann kam die erhoffte Antwort: „Ja, Mama, ich bin dabei.“
Am Tag der Aufstellung war er nervös. Ich versprach ihm, dass er nur während seiner eigenen Aufstellung anwesend sein müsse und danach Zeit für seine Ausbildung hätte. Das beruhigte ihn etwas.
Anfangs wollte er seine Geschichte nicht mit den anderen Teilnehmern teilen. Doch als der Aufstellungsleiter die erste Frage stellte, sprudelte alles aus ihm heraus.
Die Aufstellung offenbarte, dass mein Sohn eine große Last aus der männlichen Ahnenreihe seines Vaters trug. Als diese symbolisch an ihren rechtmäßigen Platz zurückgegeben wurde, zeigte sich eine spürbare Erleichterung.
Drei Monate später war die schwere Last verschwunden. Die Überforderung, die ihn so lange gequält hatte, löste sich auf. Er sprühte vor Lebensfreude – und von Suizid war nie wieder die Rede.
Sein Alkoholproblem bestand zwar weiterhin, aber seine Todessehnsucht war besiegt.
Acht Jahre später wurde er „trocken“, absolvierte eine zweite Lehre mit Bravour und fand die Liebe seines Lebens. Es ist eine wahre Erfolgsgeschichte – und ich bin unendlich stolz auf meinen Sohn.
Wir haben viel über die Vergangenheit gesprochen und reflektiert. Heute sagt er: „Weißt du, hätte ich das alles nicht durchgemacht, wäre ich nicht die starke Person, die ich heute bin.“
Wow. Was für eine Erkenntnis.
Mir geht es genauso. Wir durften so viel voneinander lernen. Ich bin unendlich glücklich und dankbar, dass sich alles zum Guten gewendet hat.
Danke, danke, dass du in meinem Leben bist!
Unsere bedingungslose Liebe und unsere Verbindung zueinander sind so tief wie der Ozean.
Diese persönliche Geschichte zeigt, wie kraftvoll systemische Aufstellungen sein können. Ja, es erfordert Mut, hinzuschauen. Doch du bist nicht allein. Gerne begleite ich dich behutsam auf diesem Weg.
Ich liebe meine Arbeit und möchte so vielen Menschen wie möglich helfen, ein glückliches und freies Leben zu führen.
Liebe Sibylle
Wenn du wüsstest, wie sehr ich deine Geschichte sowie deine mehr als traurigen und tief schmerzlichen Erlebnisse und Erfahrungen mit deinem Sohn bestens nachvollziehen und verstehen kann. Gerne erzähle ich dir von meinen unendlichen Sorgen und Ängsten mit unserer Tochter, die im Sommer 1986 angefangen und im Sommer 2015 mit Suizid ein Ende gefunden haben.
Im Alter von 25 Jahren musste sich Brigitte am 6. Juni 1986 notfallmässig einer Dickdarmkrebs-Operation unterziehen und mir ihr halbjähriges Baby, meine Enkelin Aline, von einem Tag auf den anderen und von der Brust weg anvertrauen. Nach drei Wochen Spitalaufenthalt hätte sie sich Bestrahlungen etc. unterziehen sollen, die sie allesamt nicht vertragen hat. Vielmehr wurde sie während eines ganzen Jahres von einer schweren Krankheit um die andere befallen, ihr Immunsymstem war am Ende. Zu guter Letzt holte sie eine Depression ein, die sie in regelmässigen Abständen stets von neuem erfasste, dies bis zu ihrem bitteren Ende.
Zu ihrem Segen haben viele schöne Momente ihr Dasein ihr Schicksal aufgelockert und auf bessere Zeiten hoffen lassen. Leider war ihre Krankheit stärker als alle von Psychiatern verschriebenen Medikamente, Therapien und Aufenthalte in diversen Institutionen. Sie war einfach dankbar, dass sie mich jederzeit erreichen, für sie dagewesen bin und ihre Qualen ernstgenommen hatte. In diesen Jahren habe ich mir eine grosse Sammlung an Büchern zum Thema „Depressionen“ angelegt, in erster Linie, um ihre Krankheit zu verstehen und wo möglich zu helfen.
Dass es mir in diesen schmerzlichen Zeiten vergönnt gewesen ist, meine mehr als belastenden Gedanken auf mein Geschäft (der Sprung in die Selbsttändigkeit war meine Rettung!) und später auf NEFU richten konnte und zudem an Körper und Seele gesund bleiben durfte, betrachte ich als Gnade und Geschenk Gottes zugleich. Solcherart war es mir auch vergönnt, zu Brigttes Kindern ein inniges Vertrauensverhältnis zu entwickeln. In Alines neu getexteter und frisch gestalteter NEFU Website ist ihre grosse Zuneigung zu ihrem Gromi in jedem ihrer Worte sicht- und spürbar.
Lass dich herzlich umarmen, liebe Sibylle!
Nelly
Liebe Nelly
Irgendetwas hat mit der Freigabe deines Kommentars nicht geklappt und meine Antwort ist auch weg…. die liebe Technik!
Vielen herzlichen Dank für das Teilen deiner Geschichte und deine Anteilnahme. Ich weiss genau, dass du mich so gut verstehen kannst, wie einem das Leben prüft und fordert. Die Mutterliebe stirbt nie und wir werden uns Sorgen um unsere Kinder machen, bis wir sterben. Darin liegt jedoch auch eine unbändige Kraft. Eine Kraft die uns weiter machen lässt. Eine Kraft die uns Trost und Hoffnung schenkt.
Ich bewundere deine Kraft und Stärke. Wie du es geschafft hast, dein Leben trotz dieses Schicksals zu meistern. Du bist mein grosses Vorbild liebe Nelly. Ich bin dir so dankbar, dass du NEFU ins Leben gerufen hast. So viele wundervolle Frauen zu vereinen und gemeinsam zu wachsen ist ein wahres Geschenk.
Danke, danke, danke liebe Nelly, dass es dich gibt!
Herzensgrüsse und liebevolle Umarmung.
Sybille